Die kleine Brockenhexe Walpurgis (Hardcover)

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Die kleine Brockenhexe Walpurgis

Eine Geschichte nicht nur für Kinder

 

Johanna Adler, Illustrationen: Franziska A. Meier

48 Seiten. ISBN 9783943519280. Hardcover

 

In der Walpurgisnacht, wenn es heißt, den Winter auszukehren, erwachen im Harz alle großen und kleinen Brockenhexen. Sie schütteln ihre Starre ab, fegen mit ihren Besen auf den Brocken und feiern dort mit ihrem Herrn und Meister – dem Oberteufel Urian – und seinen Gesellen ein schaurig schönes Fest. Alle machen mit, jede will die Schnellste, die Hässlichste, die Wüsteste sein. Nur eine Einzige, ein niedliches kleines Ding, darf nicht mittun. Sie wird verlacht, verhöhnt, verstoßen. Und warum? … Doch genau das wird zu ihrer großen Chance! Als die anderen Hexen längst in die Andenkenläden zurückgekehrt sind und dort steif und starr auf die nächste Walpurgisnacht warten müssen, beginnt für diese kleine Hexe etwas ganz Wunderbares, sie darf leben, richtig leben! – Die Sage der Walpurgisnacht einmal anders – und nicht nur für Kinder.

 

Leseprobe

Kapitel 2

Schon den dritten Tag lag die kleine Hexe im Brockenwald auf der Lauer. Viele Menschen waren vorbeigewandert, aber selbst beim schärfsten Hinschauen und Hinhören hatte sie das für sie Lebensnotwendige nicht entdecken können. Die einen hatten wohl eine scharfe Stimme oder sonst ein hexenähnliches Merkmal, manche hatten eine ziemlich große Nase, einige sogar eine Warze daran. Doch nie waren drei Eigenschaften beisammen gewesen, ganz zu schweigen davon, dass jemand einen solch ausgefallenen Namen wie sie gehabt hätte.

Die Bäume warfen schon lange Schatten, die kostbare Zeit verrann. Die kleine Hexe verlor alle Hoffnung. „Ich werde wohl in mein altes Dasein zurück müssen. Wie schade, schönes Leben adé!“, dachte sie mutlos.

Doch was war das? Täuschte sie sich? Von Ferne hörte sie wieder Schritte, gleichmäßig kräftige und daneben zögernde, müde schlurfende. Zuerst erspähte die kleine Hexe einen Mann. Wie sie bald erkennen konnte, hielt er sorgsam ein Kind an der Hand, zu dem er sich beim Sprechen herunterbeugte. Neue Hoffnung keimte auf, denn es war ein Mädchen, wie die kleine Hexe feststellte. Es machte einen erschöpften Eindruck. Seine Füße stolperten mehr über den steinigen Weg als dass sie gingen. Beim Näherkommen fing die kleine Hexe einzelne Wortfetzen auf. Bei ihr kehrte alle Lebendigkeit zurück, das Herz hüpfte ihr vor Freude in der Brust. Wie elektrisiert flog sie den beiden Wanderern entgegen. Sie glaubte ihren Ohren nicht zu trauen, es war zu schön, was sie hörte. Der Vater hatte seine Erzählung unterbrochen und sagte zu dem kleinen Mädchen neben sich: „Na, Burgel, deine Beine wollen wohl nicht mehr? Du bist doch sonst so fix, dass wir manchmal denken, du kannst hexen. Aber du wolltest ja unbedingt mitkommen, nun halt noch ein wenig durch.“

Burgel – und hexen! Die kleine Hexe war in höchster Anspannung. Nur noch ein Merkmal und sie hätte das große Los gezogen. Tatsächlich – sie konnte ihr Glück kaum fassen – das Mädchen Walburga, das der Vater liebevoll Burgel genannt hatte, antwortete mit einer Stimme, die vor Müdigkeit quengelig und schrill geworden war. Immer, wenn das Kind aufgeregt, müde oder sonstwie aus dem Gleichgewicht geriet, nahm seine Stimme diesen etwas scharfen Klang an. Die Mutsch hatte sich schon oft die Bemerkung nicht verkneifen können: „Unsere Burgel mit ihrer Hexenstimme!“ Das Mädchen ärgerte sich jedesmal darüber, doch der kleinen Hexe hätte die lieblichste Musik nicht schöner in den Ohren klingen können.

Wo kamen die beiden überhaupt so spät noch her? Welch' guter Geist hatte sie ausgerechnet diesen Weg gehen lassen? Oder hatte die gute Fee dafür gesorgt, dass die Hexe Walpurgis zur rechten Zeit am rechten Ort sein konnte? Während der drei vergangenen Tage war sie auf ihrem Besen mal hierhin, mal dorthin gefegt, immer auf der Suche nach der Richtigen – vergebens. Und nun dieses Glück!

Vorsichtig flog sie noch näher heran, doch was entdeckte sie? Sie prallte förmlich zurück. Es fuhr ihr in die Glieder, das war doch nicht zu fassen! Das kleine Mädchen hatte nicht nur drei hexenähnliche Merkmale, sondern zu allem Überfluss auf ihrem Näschen einen allerliebsten Leberfleck! Aus der Hexenschule wusste die kleine Hexe, dass daraus manchmal wunderbare Warzen wurden. Was hätte sie vor drei Tagen dafür gegeben. Ein gelber Nebel voller Neid verdüsterte all ihr Empfinden. Wo eben noch eine große Freude geherrscht hatte, machten sich jetzt in ihrem Kopf und ihrem Herzen scheußliche Gedanken und Gefühle breit.

„Das ist richtig gemein, die hat doch schon drei Hexenmerkmale. Wozu braucht die noch einen Leberfleck? Ich, ich, ich hätte ihn soooo gerne gehabt! Die anderen Eigenschaften kann die sich nun auch an den Hut stecken!“ Die kleine Hexe triefte nur so vor Gehässigkeit. Bei ruhiger Überlegung wäre sie darauf gekommen, dass ihr der Fleck an des Kindes Nase vor drei Tagen auch nichts genützt hätte. Aber der Neid ließ keinen vernünftigen Gedanken aufkommen.

Wütend über sich und die ganze Welt sauste sie auf ihrem Besen davon, eine kleine Wolke von Pech und Schwefel hinter sich herziehend. - Das ist halt so, wenn Hexen aufgeregt sind. -

Der Vater schaute gespielt vorwurfsvoll seine Tochter an: „Burgel, hast du etwa wieder …?“ „Ich war's nicht, wirklich nicht!“ Mit direkt keifiger Stimme verteidigte sich das Mädchen. „Immer soll ich alles gewesen sein!“ Der Vater nahm es nicht übel, er ahnte, wie müde das Kind war. „Ist ja gut, hier draußen wär's auch nicht schlimm gewesen. Aber du weiß schon, mmmh?“ Die ruhige Stimme brachte das Mädchen Walburga zur Besinnung, es legte seine Hand wieder vertrauensvoll in die des Vaters. „Nun erzähl weiter.“

Doch vorher müssen wir uns noch einen Moment um die kleine Hexe kümmern und sehen, wie es ihr erging. Ihr kam es einen Augenblick vor, als zupfte sie jemand an der Nase. Wollte die gute Fee sie mahnen? Erschrocken kam ihr zum Bewusstsein, dass sie ihre große Chance um ein Haar verspielt hätte. Dieser dumme Neid! Sie schluckte und schluckte und würgte den Kloß, der ihr fast den Atem genommen hätte, mit einiger Anstrengung hinunter. Der gelbe Nebel, der ihr alle Freude verdunkelt hatte, verzog sich. Sie spürte ihr Herz, auf das sie überhaupt nicht mehr geachtet hatte. Während der Neidattacke hatte es heftig geschlagen, als ob es sie an etwas erinnern wollte. Jetzt wurde es ruhiger und klopfte wieder gleichmäßig. Ein wunderbares Gefühl überkam sie, ihre erste gute Tat war vollbracht! Sie hatte das Schwerste, das es überhaupt gibt, geschafft. Sie hatte sich selbst überwunden, Neid und Wut bezwungen. „Jetzt weiß ich, was die gute Fee meinte“, freute sie sich. „Ich muss wirklich nur auf mein Herz hören.“

Sie fegte zurück und war mit einem Satz in Burgels Kapuze. Oh, schön mollig und gemütlich war es darin. Die kleine Hexe streckte die Beine lang aus und machte es sich bequem. Jetzt merkte sie auch, wie müde und angestrengt sie von der tagelangen Suche geworden war. Das kleine Mädchen, auf das sie eben noch eine ausgewachsene Wut gehabt hatte, tat ihr leid. Wie erschöpft musste es sein, den ganzen Tag auf den Beinen. Da hatte sie es doch viel leichter, sie konnte auf ihrem Besen herumsausen und brauchte nicht auf steinigen Wegen zu laufen.

Lange konnte sie ihren Gedanken nicht nachhängen. „Und was weißt du noch von den Hexen und Teufeln?“ hörte sie das Mädchen den Vater fragen. Er hatte nämlich, um seine müde Tochter abzulenken, die Geschichte von der Walpurgisnacht erzählt, während sie den langen Weg vom Brocken abwärts wanderten.

Es war spät geworden, der Vater hatte auf dem Berg zu tun gehabt und das hatte gedauert. Deshalb mussten sie sich nun sputen, um vor der Dunkelheit aus dem Wald herauszukommen. Nicht, dass der Vater sich fürchtete, nein, aber Burgel? Er nahm ihre Hand fester in die seine. „Musst keine Angst haben. Die Hexen und Teufel tanzen nur in der letzten Nacht vom April und das war doch schon vorgestern. Außerdem sind das bloß Geschichten.“ Trotzdem schaute sich Burgel immer wieder um, sie hatte ein komisches Gefühl. Folgte ihnen etwa jemand? Und was kitzelte sie da am Hals? Dass es der Hexenbesen war, ahnte selbst die kleine Hexe nicht. Nur als Burgel ihn beinah erwischt hätte, merkte sie auf und gab besser auf ihn Acht. Es war aber auch zu interessant, was der Vater erzählte. Er wusste von vielen, mitunter sogar berühmten Leuten zu berichten, die ganze Bücher über das Treiben des Hexenvolkes geschrieben hatten. Nicht etwa nur für Kinder, sondern auch für richtig große Leute.

„Also gibt es in Wirklichkeit gar keine Hexen und Teufel?“ fragte Burgel den Vater. Die kleine Hexe verkroch sich vor Schreck tief in die Kapuze. Sie sollte es nicht geben?! Bei allen guten Geistern, das konnte doch nicht sein? Das durfte nicht wahr sein. Ihr Herz setzte fast aus. Aber – oh Wonne – sie hörte den Vater antworten: „Na, da bin ich mir nicht sicher. Ein bisschen Hexe und ein wenig Teufel stecken wohl in jedem von uns.“ Er schaute seine Tochter von der Seite an und neckte sie: „Was meinst du wohl, warum die Mutsch manchmal sagt, 'unsere Burgel kann eine richtige kleine Hexe sein?'“ Und ehe sich das Mädchen wieder ärgern konnte, fuhr er fort: „Außerdem, was wäre unser Leben ohne Hexen und Teufel, ohne Feen und Kobolde, ohne Schutzengel und Weihnachtsmann? Und ohne all die schönen oder traurigen Märchen? Und was würde aus dem Nikolaus und dem Osterhasen?“

Das Mädchen seufzte erleichtert auf, darauf wollte es nicht verzichten. Es gab das alles also – oder auch nicht, es kam nur auf jeden selber an.

Und die kleine Hexe? Die entschied für sich, Wirklichkeit zu sein – und Recht hatte sie damit.

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