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Durchlebte Wende im Osten
Erlebnisse, Beobachtungen und Einschätzungen eines Westdeutschen in der ehemaligen DDR
Gerhard Brugmann
108 Seiten. ISBN 9783943519396 (E-Book ISBN 9783943519402)
Der vorliegende Report bietet einen authentischen Einblick in die Wendezeit der DDR aus der Sicht eines engagierten Westdeutschen. Er reflektiert die Hilflosigkeit und das im Stich gelassen Sein, aber auch den Mut und die Zuversicht der Menschen im Osten Deutschlands nach dem Mauerfall.
Der Autor erreichte als Soldat zeitgleich mit der Wiedervereinigung sein Dienstende und wirkte mehrere Jahre für den Deutschen Städtetag und die EU in den neuen Bundesländern. Auf der Suche nach dem richtigen Verständnis für die Mentalität der Deutschen, die über 40 Jahre im real existierenden Sozialismus jenseits der Mauer lebten, führt er den Leser durch subtile Beobachtungen nah an die Situation und die Menschen heran. Das Selbstverständnis von Frauen, Männern und Familie ist im Osten ein anderes. Die Satsi, die Sowjetischen Streitkräfte, die NVA, KITAs, die medizinische Versorgung und das Thema Grund und Boden sind weitere Kristallisationspunkte der Betrachtungen dieses Buches.
Als teilnehmender Beobachter, der sich selbst einbringt und Erlebtes sowohl betroffen als auch distanzierthumorvoll reflektiert, legt der Autor eine breite Sammlung von Essays vor, die einen tiefen Einblick in die Ereignisse geben und zum Nachdenken auffordern.
Leseprobe
1991/1992 - Grund und Boden
Wer hundert Hektar und mehr hatte, der war ein Charakterschwein, er war ein Volksfeind und mußte enteignet werden. War es weniger als hundert, gehörte man zur guten Sorte Mensch. Ganz einfach. Versteht doch jeder. Daß das so richtig war, hat auch flugs das Bundesverfassungsgericht erkannt, als es das Erbe sozialistischen Rechtsempfindens antrat, vielleicht auch in dem Glauben, zur Sicherheit noch einmal einen Schlußstrich unter Preußen ziehen zu müssen.
Wie ich den jungen Lochow frage, warum er so hartnäckig und verzweifelt versucht, auf dem Boden seiner Väter Fuß zu fassen, der ihm doch nicht gehöre und nicht gehören werde, er kenne doch die Rechtslage, schaut er mich lange und groß an und sagt nur: „Meine Familie hat hier tausend Jahre gesessen.“ Ich schäme mich. Ich schäme mich gleich mit für das Bundesverfassungsgericht. Ich schäme mich für die Bundesrepublik Deutschland.
Bei Grimma treffe ich Frau Günter. Auch ihr Mann wurde enteignet, da mehr als hundert Hektar. Aber man durfte bleiben. Nun zahlt sie Miete im eigenen Haus.
Wild-West muß harmlos gewesen sein gegenüber Wild-Ost. Ich frage mich immer wieder, wie die Menschen hierzulande den altbundesrepublikanischen Eigentumsbegriff begreifen sollen. Daß sich Privatleute als Raffkes gebärden, erklärt man sich noch selber, daß aber der Bund der Oberraffke ist, verwirrt denn doch ein wenig.
Es muß schon so richtig Spaß machen, die Leute über den Tisch zu ziehen, bei den Mauergrundstücken, auf Übungsplätzen, wo auch immer. Meist merken sie es ja nicht einmal, denn sie schauen Gott sei Dank nicht durch. Gerichtsbarkeit gibt es noch nicht, und wenn, dann macht es nichts, wenn die Anwältin gleich beide Parteien berät. Es macht nichts, wenn eine rote Socke Staatsanwalt ist oder dem Gericht vorsitzt. Was heißt schon Rechtspflege!
Mit den Flurstücken ist das ganz einfach. Wie der sowjetische Offizier mit dickem Stift auf der 25000er die Grenze des Truppenübungsplatzes zieht, entsteht blitzschnell Bundeseigentum. Daß die Grenze quer über die Flurstücke geht, macht auch nichts. Die brauchen nicht vermessen zu werden. Ragt der größere Teil des Flurstücks in den Übungsplatz, schwupp, gehört das Flurstück dem Fiskus. Denkt sich doch keiner was dabei. Ist ja auch nicht böse gemeint. Sind doch alle in der LPG-GmbH und wissen nicht mehr, was ihnen gehört. Es macht auch nichts, daß die Truppenübungsplätze in DDR-Zeiten nicht abgegrenzt waren, daß das genutzte Gelände mal größer, mal kleiner war.
Nun gibt es aber einen Einigungsvertrag mit einer Gemeinsamen Erklärung, in der steht: „Sind Vermögenswerte ... auf Grund unlauterer Machenschaften, z. B. durch Machtmißbrauch, Korruption, Nötigung ... erlangt worden, so ist der Rechtserwerb rückgängig zu machen.“ Aber was soll das! Hält doch nur auf. Und, bitte schön, was ist schon Machtmißbrauch oder Nötigung? Es liegen doch haufenweise Kaufverträge vor, und mehr als 10 Pfennig war der Quadratmeter Hochwald ganz bestimmt nicht wert. Auch kann man doch den Hinweis auf Bautzen, diskret gegeben und ja auch überhaupt nicht nachweisbar, nicht gleich als Nötigung auffassen. Na, und was ist er heute wert, dieser Wald? Weniger als nichts: Gleißender Sand, gemischt mit Millionen Granat- und Raketensplittern und wer weiß wie vielen Blindgängern. Da kann man doch nur froh sein, wenn der Bund einem das abnimmt! Denken Sie an die Gefährdungshaftung! Na also.
Es ist schon schwer, ein Verhältnis zu Grund und Boden zu bekommen. Die zementenen Grenzpfähle haben sich gut schichten lassen, und dann oben auf den Podest den Panzer drauf, den Befreiungspanzer von Nazidiktatur, von Feudalismus, von Imperialismus und gleich auch noch vom Eigentum. Hat ja nur ein bißchen Menschenwürde und diesen komischen Freiheitsbegriff gekostet.
Wie soll man sich da umstellen, wenn der Boden der Eltern so lange Volkseigentum war und wenn Volkseigentum bedeutet, daß es niemandem gehört? Darum konnte man ja auch so schön jeden Gammel in den Wald schmeißen!
Die Suche nach dem Loch bei Frankfurt-Oder, in dem er '45 verwundet worden war, hat Horst und mich zum Bauern Schulze geführt. Wir reden über den Krieg, darüber, wo Vater und Sohn Schulze die Toten verscharrt haben, und wir reden auch über sein Land. Schulze ist kein Träumer, aber wieviel Land ihm gehört und wo der Wald aufhört, den ihm der Vater hinterlassen hat, weiß er nicht so recht. Er will es auch nicht wissen, denn er weiß nichts damit anzufangen.
Nach einem Jahr komme ich wieder und habe meinen Sohn dabei. Bauer Schulze und seine Frau haben auch einen Sohn. Weil Sonntag ist, gehen wir alle im Wald spazieren. Als guter Gastgeber fängt Schulze an zu erklären. Hier war ein Hügel, den habe sein Vater an den Staat verkauft. Damit habe man die Autobahnüberführung angeschüttet. Hier steht eine alte Jagdhütte, die hatte sein Vater mit seinen Freunden aufgestellt. Die Stasi hat sie an sich genommen und so schön gepflegt.
Ja, und in diesem Waldstück gibt es die meisten Pilze. Das müsse doch auch seinem Vater gehört haben.
Plötzlich fängt sein Sohn an zu fragen. Will wissen, wem dieser Acker, der Teich, jener Wald gehört. Und zum ersten Mal sprechen Vater und Sohn über das Land, das ihnen gehört. Zum ersten Mal.
Zum Schluß zeigt der Sohn uns die verwucherten Reste eines kleinen Wohnhauses, das auch zum Anwesen gehörte, im Krieg zerschossen wurde und verfiel. Hier hätte er sich schon immer gewünscht, ein Haus zu bauen, und ob man mit dem Land nicht doch etwas anfangen könne?