Geschichten aus dem Leseturm III

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Geschichten aus dem Leseturm III

Das Wendebuch: Erlebte Revolution 1989/90, Massenflucht, Reisefreiheit, D-Mark, Wiedervereinigung. Wir sind das Volk!

 

Leseturm Literaturkreis MerseburgHerausgeber: Katharina Mälzer. Autoren: Beatrix Haushälter, Birgit Gerlach, Dietrich Werner, Emily Mann, Hans-Dieter Weber, Heidrun Kligge, Jana Mann, Jürgen Jankofsky, Jürgen und Christel Tippelt, Katharina Mälzer, Nikeas, Peter Gehre, Philine Eschke-Scheubeck, Regina Oversberg, Rüdiger Paul, Tilo Buschendorf

256 Seiten. ISBN 9783943519372

 

2019 jährt sich die Wende zum 30. Mal. „Das Wendebuch“ zeichnet in 30 Geschichten aus unterschiedlicher Sicht ein eindrucksvolles Bild der Gefühle, Hoffnungen und Ängste aus dieser bewegten Zeit. Jener Zeit, die das Leben jedes einzelnen Menschen im Osten gravierend änderte.

Interviews mit Zeitzeugen, Briefe, Erinnerungen an die letzte Kommunalwahl der DDR, an die Massenflucht und den heißen Herbst. Was war im Vorhinein erahnbar? Beteiligte man sich aktiv? Überließ man sich dem Strom der Massen, oder war es letztlich die D-Mark, die zählte? Wer drehte an welchen Schrauben? Wer rettete seine Haut? Wer witterte neue Möglichkeiten?

Euphorie, neue Lebensfreude, aber auch Ernüchterung: Was ist aus der „Revolution“ geworden? Die Erfahrungen derjenigen, die diese Zeit erlebt haben, schärfen ganz besonders den Blick auf die heutige Zeit.

*

Erneut haben sich Autoren aus Merseburg und Umgebung im Leseturm zusammengetan und erzählen nun aus der Kernzeit der Wende, als alles begann, aus der Norm zu fallen. Geschichten, die Geschichte erlebbar machen. Geschichten, geschrieben, um Erinnerung wachzuhalten auch für diejenigen, die seinerzeit nicht an den Orten des Geschehens oder noch nicht geboren waren.

 

Leseprobe

Graffiti
(Rüdiger Paul)

Graffiti nutzten schon die Römer als Medium, sich anderen mitzuteilen. Wenn man in Pompeji eine Nachricht verbreiten wollte, schrieb derjenige die Neuigkeit, für alle sichtbar, an die Hauswand. Die Staatsführung der DDR machte sich diese Plattform ebenfalls zu eigen. Überdimensionierte Ban-ner waren allgegenwärtig und zeigten dem Volk, wo es langgeht. In den Jahren seit der Gründung des Landes entstand ein regelrechter Bannerkult. Bloß, daß diese im Laufe der Zeit niemanden mehr interessierten. Im Gegenteil, es nervte die Leute, wenn ihnen an maroden Hauswänden in großen Lettern Durchhalteparolen entgegenprangten.

In meinem Lesebuch fand sich in den sechziger Jahren eine Geschichte, in welcher jemand mit Farbe auf eine Wand „Wählt Ernst Thälmann!“ geschrieben hatte. Eilends gingen die damaligen Machthaber gegen die Schmiererei vor, indem sie das Machwerk der Konterrevolution mit Farbe übertünchten. Schon am näch-sten Tag schimmerten die Buchstaben der Aufschrift durch die aufgebrachte Farbe. Nach wie vor war der Aufruf Thälmann zu wählen lesbar. Der nochmalige Versuch, Farbe aufzubringen, scheiterte kläglich. Letztendlich ging man bei, schlug mit Hammer und Meißel den Putz ab.

Uns Jungpioniere sollte das Lesestück lehren, daß man auch aus dem Untergrund heraus seine Meinung vertreten muß. Zudem kam die Aussage, daß es nicht einfach ist, Meinungen anderer zu unterdrücken. Ein Jahr vor dem Mauerfall bekam ich eine Be-suchserlaubnis zur Hochzeit meines Cousins. Die Freude war groß, selbst im Interzonenzug über die Grenze bis nach Hamburg fahren zu können. Auf einem meiner Spaziergänge durch die Hansestadt entdeckte ich die Hafenstraße. Zu der Zeit das Viertel der Hausbesetzerszene, die ich nur aus den Nachrichten der Tagesschau kannte. Grellbunt waren ganze Häuserfassaden mit unterschiedlichen Parolen übersät. Inhalte der farbenfrohen Graffitis waren Abrüstung, Kampf gegen Atomkraftwerke, Emanzipation, Liebe und Frieden. Über allem prangte ein überdimensionales „Peace“-Symbol. Nicht einmal das zu tragen war in der DDR erlaubt.

Der Spielfilm „Beat Street“ lief seit 1983 in den Kinos rauf und runter. Der Film sollte das Elend der Jugendlichen in der New Yorker „Bronx“ bloßstellen. Genau das Gegenteil wurde erreicht. Unter den Jugendlichen in der DDR hatte dieser Film eine regelrechte Lawine losgetreten. Alles was nachgeahmt werden konnte, wurde nachgeahmt. Die Kreativität kannte keine Grenzen. Es bildeten sich Breakdance-Clubs, Bands und es entwickelte sich zaghaft eine Graffiti-Szene. Die Graffitis hatten andere Inhalte, boten jedoch einen guten Kontrast zu den verordneten Parteitagspa-rolen. Breakdancer waren nicht unbedingt meine Ziel-gruppe, da ich mich bei Klängen der Rock- und Blues-musik austobte. Es sollte nicht lange dauern, als ich das erste, mich berührende Graffiti zu sehen bekam. An einem kühlen Septembermorgen nahm ich auf dem Weg zur Straßenbahnhaltestelle in gewohnter Weise schnellen Schrittes die Granitstufen der Fußgängerunterführung am „Hotel Drei Schwäne“. Unten im feuchtkalten Tunnel flackerte eine Neonröhre brummend vor sich hin. Nachdem ich ein paar Meter zurückgelegt hatte, erblickte ich auf den Bodenfliesen eine Parole. Neun große weiße Buchstaben mit eiliger Hand auf den Tunnelboden gepinselt. Eine Freude stieg mir ins Gesicht. Hier hatte sich jemand getraut, wenn auch im Verborgenen. „STASI RAUS!“ war die Aussage. Mehr nicht und auch nicht weniger.

Wer mag heute noch ermessen, wie wichtig es dem Schreiber gewesen war, genau diesen Satz auf die feuchten Fliesen zu pinseln. War er feige, hier im dunklen Tunnel heimlich so etwas mitteilen zu wollen? Nein, eher das Gegenteil, fand ich, er zeigte Gesicht. Diejenigen, um die es in den drei Silben ging, hatten perverse Methoden entwickelt, um aus dem Verborgenen Menschen zu erniedrigen. Und sie hatten das, was der einsame Maler im Tunnel tat, unter Strafe gestellt. Ich blieb stehen, dachte an die Mitarbeiter, die um die Lösung der Losung nicht vorbeikommen. Was in deren Köpfen vorgeht. Daß der Wind sich gedreht hatte, war allgegenwärtig zu spüren. Beim Verlassen des Tunnels auf der gegenüberliegenden Seite sann ich noch nach; es kamen mir Zweifel. Was, wenn ich gesehen wurde, und verdächtigt werde, der Urheber der Stasiparole zu sein. Keine Ahnung mehr, wie es in meinem Kopf weiter arbeitete. Jedoch spürte ich an dem Tag, daß in meinem Inneren ein Punkt überschritten war. Daß man Mut brauchte, um in dieser Zeit etwas zu bewirken. Vielleicht waren die neun Buchstaben auch das Zünglein an der Waage, daß ich zum ersten Mal Mut faßte, in Leipzig an der Montagsdemo teilzunehmen.

Kaum eine Woche später fuhr ich mit dem Fahrrad über die Bahnbrücke an der Leunaer Festwiese. Von weitem konnte ich sehen, wie vier Genossen der Werks-polizei direkt neben der Werksmauer eine große Plane entfalteten. Auf die graue Werksmauer hatte jemand mit weißer Farbe „Die Mauer muß weg!“ gepinselt. Einem anerzogenen Reflex gehorchend, versuchten die Genossen, mit der Plane die Losung zu überdecken. Das Geschriebene sollte mit aller Macht vor den Blicken der zum Schichtwechsel zahlreichen Passanten verborgen bleiben. Zu dem Zwecke stoppte man an der Haltestelle „Heiterer Blick“ alle in Richtung Leuna-Werk fahrenden Straßenbahnen. Die um diese Zeit voll besetzten Triebwagen durften erst nach der totalen Losungsfinsternis den Ort der „Wahrheit“ passieren. Zeitversetzt traf dann ein eilig zusammengewürfel-ter Trupp Sandstrahler ein. Mit viel Aufwand strahlten die Kollegen jede Menge Sand auf das, was nicht sein durfte. Ein strahlend heller Fleck erinnert mich heute noch an den Mut des unbekannten Malers.

Ähnliches ereignete einige Tage später in Blickwei-te, an der südlichen Fassade des Uhrenladens vor der Eisenbahnbrücke. Heute ist in den Räumen ein Begräbnisinstitut ansässig. Als ich mit dem Fahrrad am Schaufenster vorbei-fuhr, vernahm ich Maurerspechte. Sie arbeiteten an der Fassade der HO-Verkaufsstelle scheinbar im Akkord. Die weiß gekleideten Herren Handwerker waren nicht etwa damit beschäftigt, eine Wand zu verputzen. Nein, im Gegenteil, sie meißelten den Putz von der Haus-wand. Auf dem ersten Blick erschloß sich für mich kein Grund für dieses emsige Tun. Denn der Putz saß fest am Mauerwerk. Er hatte nur einen Makel, auf seine rauhe Oberfläche hatten zuvor „Neue-Forum-Hände“ eine Losung gepinselt. Diese lag für mich unlesbar in Form von kleinen grauen Putzbrocken auf dem Gehweg. Anschließend wurde die noch ganz junge Losung mit Besen und Schaufel entsorgt. Daß es sich um keinen der Staatssicherheit wohl-wollenden Satz handelte, war offensichtlich. Denn in angemessener Entfernung vom „Tatort“ standen in gewohnter Weise zwei, mit schwarzen Lederjacken bekleidete Herren. Auf dem Dach ihres Dienstfahrzeuges vom Typ Lada thronte eine Dachantenne. Sie beobachteten die Ausführung ihrer Anordnungen durch die Maurerbrigade.

In den Dienstzimmern der VEB Leuna-Werke machten die für unsere Sicherheit verantwortlichen Genossen eben keine halben Sachen. Sie hatten immer gut aufgepaßt und ihre frühe Lektion aus unserem Lesebuch gelernt. Graffitis setzten im Herbst ´89 ebenso wie die Menschen, die zu den Montagsdemos auf die Straße gingen, Zeichen für eine Zeitenwende. Ein Signal zum Aufbruch, auch für mich. In unserer Demokratie prägen Werbebanner das Straßenbild. Es gibt Graffitis, vor denen stehe ich mit Respekt. Spontan fällt mir dazu die „Freiluftgalerie“ rund um die Landsberger Straße oder unterschiedliche „Street Art Galerien“ in Halle ein. Verschiedene Bilder beinhalten Botschaften, wie sie einst in Pompeji ver-standen werden sollten. (Mein Favorit: Paulo Ito „Das letzte Abendmahl“ in der Landsberger Straße 3.) Anders im alltäglichen Straßenbild. Gruppen von Linken, Rechten oder frustrierte Fußballfans bringen Parolen auf die Fassaden, die im Laufe der Zeit bis zur Unkenntlichkeit mit Gegenparolen überschrieben wer-den. Mit Farbe an die Wände gestottert, überlagern sich sinnfreie Buchstabenketten.

Das liest sich wie die in der Geschichte aus meinem Lesebuch. Dank der ´89er Graffitimaler müssen nun Maurerbrigaden keine Parolen mehr von den Wänden hacken. Die einstigen Auftraggeber hatten, nachdem die Mauer weg war, die Lederjacken an den Nagel gehängt und sich eilig wieder unters Volk gemischt. Neun Buchstaben sei dank.

 

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