Nietzsche - Werke, Band 1 - Die Geburt der Tragödie ...

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Friedrich Nietzsche, Giorgio Colli (Hrsg.)

Die Geburt der Tragödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I - IV. Nachgelassene Schriften 1870 - 1873

Kritische Studienausgabe, Band 1

dtv Sachbuch, Paperback, 928 Seiten, ISBN 978-3-423-30151-0

In einem gewissen Sinn ist ›Die Geburt der Tragödie‹ Nietzsches »mystischstes« Werk, insofern nämlich, als es eine Einweihung erfordert. Es gibt Stufen, die man erreichen und überwinden muß, um in die visionäre Welt der ›Geburt der Tragödie‹ eindringen zu können: eine literarische Einweihung, wohlverstanden, bei der das Mysterienritual durch das gedruckte Wort ersetzt wird. So ist die ›Geburt der Tragödie‹ auch Nietzsches schwierigstes Werk, denn überall sonst übernimmt der Mystagoge die Sprache der Vernunft und führt damit von Mal zu Mal in eine Welt ein, die er eingehend zu erklären bemüht ist. Auch der Stil verrät diese Divergenz: In der ›Geburt der Tragödie‹ spricht Nietzsche die Sprache der deutschen Klassik; noch hat er seine neue einzigartige, einem mystischen Kontext entsprechende Ausdrucksform nicht gefunden: Die Autonomie, die Perfektion einer stilistischen Form, hilft nicht, das Unsagbare manifest zu machen. Später wird sich Nietzsche in der Distanzierung von den Inhalten als rational entdecken und seinen ureigenen Stil erobern.

Giorgio Colli

"In zwei Zuständen nämlich erreicht der Mensch das Wonnegefühl des Daseins, im Traum und im Rausch." (Friedrich Nietzsche)

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Die Wagnerianisch-Schopenhauerische Zeit (1872-1876) umfasst die Werke:

  • Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik
  • Unzeitgemäße Betrachtungen:
    • I David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller
    • II Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
    • III Schopenhauer als Erzieher
    • IV Richard Wagner in Bayreuth

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Leseprobe

Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein gesondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die griechische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merkwürdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbeigeführt erscheinen: mit welchem Vorgange eine Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen: wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu finden. Und gerade nur so viel ist ein Volk — wie übrigens auch ein Mensch — werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken vermag: denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d.h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern: womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf: man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden, ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft: aber auf den niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor: in dessen Mitte der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zu betäuben.

Friedrich Nietzsche. Die Geburt der Tragödie. 23.

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